Offener Brief vom 9. Februar 2021
Sehr geehrte Echinger Grüne,
staunend las ich im vergangenen Herbst, dass Bündnis90 / Die Grünen dabei seien, von Volksentscheiden abzurücken [1]. Obwohl diverse Organisationen die Parteispitze ins Gebet nahmen, argumentierte Robert Habeck mit knappem Erfolg auf dem Parteitag Ende November gegen dieses direktdemokratische Werkzeug. So verschwand die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden aus Eurem Grundsatzprogramm.
Man muss sich also nicht nur darauf gefasst machen, dass Kontrahenden Begriffen weichspülen, indem sie sie eifrigst benutzen. Darüber hinaus werden eigene Konzepte vergessen oder, aus taktischen Überlegungen, abgeräumt [2].
"Basisdemokratie" war einmal ein Ideal Eurer Partei. Beim Personal haltet ihr es hoch. Wo es um Sachfragen geht, meldet ihr plötzlich Zweifel an: Ob die Abstimmenden denn überblickten, was zu regeln sei? Das gilt aber allgemein. In die Köpfe von Kandidierenden schaut ihr sicher auch nicht hinein. Jedenfalls argumentiert Euer Vorsitzender nun wie ein schwarzer Generalsekretär im Jahr 2012. Robert Habeck denkt vielleicht ans Koalieren nach der Bundestagswahl. Markus Blume wurmte damals womöglich der Münchner Bürgerentscheid gegen den Flughafenausbau.
Wenn Politiker obendrein den Dialog scheuen, fragt mensch sich, was dahinter steckt. Naheliegend wären Elitebewußtsein oder Professionalität in dem Sinn, dass Aufwand minimiert wird [3][4].
Als Schreckmittel gegen die direkte Demokratie dient neuerdings der Brexit. Auch ich fand das Ergebnis fatal. Doch diese Abstimmung ist mit jenen in der Schweiz üblichen und den in Bayern zumindest möglichen nicht zu vergleichen: Als die Briten über den EU-Austritt oder die Russen und Türken über Verfassungsänderungen entschieden, kam die Vorlage von oben. Es handelte sich um Plebiszite. Wobei bekannt ist, wie es um die Pressefreiheit unter Erdogan steht. Russland wiederum erwies sich im Mai 2020 mustergültig als "gelenkte Demokratie". Wunderbares war im Angebot: Für den kleinen Mann eine Altersversorgung in garantierter Höhe, und, für Präsident Putin nebenher, Schalten und Walten ohne Ende sowie juristische Immunität auf Lebenszeit.
Volksentscheide sind nicht zum Gebrauch durch Regierende bestimmt. Der Anstoß muss von unten kommen. Die Erfahrungen zeigt, wesentliche Anliegen nehmen die Hürden zwischen Initiative und Entscheid.
Fatal ist die Wende der Grünen insofern, als zur Wahl 2017 fast alle Parteien mit bundesweiten Volksentscheiden im Programm angetreten waren. Somit hatte der Bundestag einen Auftrag. Einen Gesetzentwurf lieferte Mehr Demokratie e.V. frei Haus. Union und SPD bekundeten in ihrem Koalitionsvertrag vom März 2018:
Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann.
Geschehen ist nichts. Wie ungedeihlich die Lage ist, erweist die jüngste Reform des Wahlrechts. Fachleuten zufolge verfehlt sie alle ihre Ziele: Der Bundestag wird nicht kleiner und der Wählerwille schlechter abgebildet als zuvor. Die SPD erkennt schon jetzt in Hinblick auf die Wahl von 2025 ein "Verbesserungspotential". Es ist unschwer erkennbar, dass die jeweiligen Parlamentsmehrheiten zu sehr den Parteiinteressen verhaftet sind. Inzwischen liegt eine Klage der Opposition vor. So wird das Bundesverfassungsgericht klären müssen, ob dieses ahlrecht auch nur ein einziges Mal angewendet wird. Für dieses Thema braucht es offensichtlich unabhängige Experten und engagierte Bürger. Dass deren Arbeit schließlich gewürdigt und geltendes Recht wird, gewährleistet am ehesten die direkte Demokratie.
Welche Position bezieht ihr zu bundesweiten Volksentscheiden? Wollt ihr, dass sie in dem noch zu erstellenden grünen Bundestagswahlprogramm gefordert werden? [5] Für Deutschland wäre mir lieb, wenn wir an einem Strang zögen. Aber als ÖDP profilieren wir uns natürlich auch gern als ökologisch - direktdemokratische Partei.
Viele Grüße
Markus Hiereth